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Für mein Traumkind

in Für mein Sternchen, das in jeder Sekunde fehlt 22.06.2023 22:31
von sternenmama_23 • 5 Beiträge | 5 Punkte

Mein liebes Sternchen,

es ist jetzt drei Wochen her, dass Du gegangen bist. Ich muss leider sagen, ich habe wenig Zeit gehabt, an Dich zu denken. Deine großen Brüder und meine Arbeit haben mich fast ständig in Aktion gehalten. Ich möchte mich aber noch richtig von Dir verabschieden und werde übermorgen, am Wochenende, den Papa bitten, mir etwas Zeit zu verschaffen. Ich möchte Dir einen Stein in den Garten legen und ein paar Blumen hinlegen und eine Weile an Dich denken. Wer warst Du wohl? Warst Du schon jemand? In meiner Vorstellung schon.
Heute habe ich bei der Frauenärztin angerufen und nach einigen Blutergebnissen gefragt. Sie sind alle unauffällig. Ich weiß also nicht, warum Du nicht bleiben konntest. Nach dem Anruf kam wieder alles hoch – ich hatte zwischendurch schon fast geglaubt, ich hätte es verarbeitet. Wahrscheinlich war ich aber nur sehr abgelenkt.

Ich bin so neidisch, neidisch auf Frauen, die mit ihrem Mann ausmachen können, dass sie ein Kind bekommen – und dann bekommen sie eins! Warum ist für mich erstens das Schwangerwerden so schwer, und jetzt ist auch noch das Schwangerbleiben so schwer! Sollte ich vielleicht, nachdem mein Körper mit Ach und Krach und viel Mühe und Hilfe und nach elendiger Warterei zwei Kinder auf die Welt gebracht hat, zufrieden sein und es dabei bewenden lassen? Ja, das würde ich, wäre nicht dieser tiefe Wunsch da drinnen, noch einmal ein Kind zu bekommen. Warum ich diesen Wunsch habe, weiß ich auch nicht. Ich wünschte ja fast, es wäre nicht so, und ich würde einfach zufrieden leben, so wie ich das von außen gesehen auch gut könnte. Aber das ist natürlich absurd. Einen Wunsch kann man nicht einfach wegdenken.

Für mich wirst Du auf eine gewisse Weise immer lebendig sein. Egal, wie kurz Dein Leben dauerte, und auch das Leben Deines Sternen-Geschwisterchens, Ihr ward da. Ganz egal, wie klein, ganz egal, wie kurz, für mich seid Ihr meine Kinder. Ich möchte wissen, ob es einen Sinn hatte, dass Ihr bei mir ward und vor allem, ob es einen Sinn hatte, dass Ihr nur so kurz bei mir ward. Leider werde ich keine Antwort bekommen.

Ich weiß genau, ich werde meine Türen offen halten, so wie ich das die letzten dreizehn Jahre lang getan habe. Euer Papa und ich werden weiter versuchen, ein Kind zu bekommen, obwohl ich im Moment glaube, dass es mich bei einem dritten Verlust umhauen würde.

Deine Tante hat mir heute ein Foto geschickt, auf dem ihr Baby gerade Obstbrei isst. Es ist über und über mit Brei beschmiert, und auch der ganze Hochstuhl ist voll. Oh Gott, dachte ich, was für eine Schweinerei! Ich weiß noch gut, wie viel Arbeit Babys machen und wie mühsam und fremdbestimmt das Leben mit einem kleinen Kind ist. Ich erinnere mich auch daran, dass ich mit zwei kleinen Kindern schon mal dachte, jetzt werde ich depressiv. Trotzdem ist es für mich das Schönste auf der Welt. Ich kann nicht verstehen, wie Menschen, denen es leicht fällt, Kinder zu bekommen, freiwillig nur eins oder zwei bekommen. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich bestimmt fünf Kinder bekommen! Ich würde diese Menschen nur zu gerne verstehen und so fühlen wie sie. ´Warum muss ich diesen großen Wunsch in mir tragen, wenn mein Körper nicht mitmacht?

Falls wir doch noch ein drittes Kind bekommen, werde ich mich fragen, ob Du das bist, oder Dein älteres Sternengeschwisterchen, oder ob vielleicht sogar immer dieselbe Person bei uns angeklopft hat? Wer warst Du? Oder wer bist Du?

Ich habe ganz bestimmte Gefühle, die ich mit Dir verbinde, auch wenn ich nur wenige Worte dafür habe. In meiner Vorstellung warst Du mit Dir und der Welt zufrieden und strahltest Glück aus. Das Gefühl bei Deinem älteren Sternengeschwisterchen war anders. Irgendetwas hat nicht gestimmt, von Anfang an, ich hatte Angst vor dem, was kommen würde. Vielleicht lag das auch einfach daran, dass ich nicht damit gerechnet hatte, noch mal schwanger zu werden (höchstens ganz heimlich mal in meinen Tagträumen).

Und dann muss ich gestehen, dass ich mir vorgestellt habe, dass Du ein Mädchen wärst. Ich hatte mir, mal mehr, mal weniger heimlich, schon vor vielen Jahren eine Tochter gewünscht. Natürlich habe ich unsere Jungs genauso lieb, wie ich eine Tochter gehabt hätte. Aber ich sehne mich nach dieser besonderen Verbundenheit zwischen Mutter und Tochter. Es ist natürlich völlig unvernünftig, bei einer 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Du ein Mädchen sein würdest. Und es ist auch irgendwie vermessen von mir, ganz selbstverständlich davon auszugehen, dass das Leben sich meinen Wünschen schon fügen wird. (Das tut es ja auch nicht, wie man sieht.) Wärst Du tatsächlich ein Junge geworden, hätte ich – wie die letzten beiden Male auch – dann eben den Kopf über mich selbst geschüttelt und mich genauso gefreut.

Du wärst so süß geworden wie Deine Brüder, wahrscheinlich hättest Du auch so strohblonde Haare gehabt, und wärst hier mit zwei Zöpfen über die Wiese getobt.

Und das war vielleicht alles nur Einbildung? Was habe ich mir da vorgestellt? Vielleicht wäre aus Dir auch ein ruhiger, sehr ernster dunkelhaariger Junge geworden. Oder vielleicht hast Du körperlich gesehen gar keine Chance gehabt, ein Erdenkind zu werden. Vielleicht ging irgendetwas schief, eine Zelle, die sich falsch teilte oder etwas Ähnliches. War da eine Seele, die in den Körper einziehen wollte, und die ihn dann doch nicht nutzen konnte, weil er nicht in Ordnung war?

Wenn ich es so betrachte, hängt so viel an meinen Vorstellungen, Erwartungen und Träumen. Haben die etwas mit einem Wesen zu tun, das tatsächlich da war? Ich hoffe es so sehr und trage es so im Herzen.

Ich wünschte, ich wäre allwissend oder könnte einfach in eine Glaskugel schauen oder ich hätte ganz plötzlich eine Erleuchtung. Aber so muss ich mit den Fragen leben.

Lebe wohl, mein Traumkind.

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